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Genuss mit Weitblick
Vorsichtiges Einrollen ist angesagt. Kein Problem, denn vom Fahrradverleih bei St. Aubin bis hinunter zum Küstenradweg zur Hauptstadt St. Helier geht es nur ein paar Dutzend Meter bergab. Doch: „Halt, halt, halt“, ruft Tourenleiterin Ann Le Cornu ihre Schützlinge lachend zur Ordnung, „auf Jersey fährt man links!“ Zwar haben Fahrradfahrer, Fußgänger und Reiter auf den verkehrsberuhigten „Green Lanes“ Vorrang. Doch selbst auf Feldwegen ist es wichtig, bei Gegenverkehr zur richtigen Seite auszuweichen. Denn die größte der Kanalinseln in Sichtweite der französischen Normandie-Küste ist wie ihre kleineren Schwestern Guernsey, Alderney, Sark und Herm britisch, ohne zum Vereinigten Königreich zu gehören. Geführte Fahrradtouren gehörten sicher zu den schönsten Möglichkeiten, die Insel kennen zu lernen. Ein bisschen Kondition ist allerdings von Vorteil. Jersey ist mit 116 Quadratkilometern zwar in etwa so groß wie Sylt, doch an ihren rauen, felsigen „Rändern“ weist die Insel mitunter kraftraubende Höhenunterschiede auf.
Vorzuziehen ist der „Drahtesel“ dem Kraftfahrzeug auf jeden Fall nach einer maßvollen Weinprobe auf dem Gut La Mare in St. Mary. Dort wird aus deutschen Trauben nach Angaben seiner Hersteller „der beste englische Wein“ gekeltert – auf französischen Breitengraden kein wirkliches Wunder.
Auf unbeholfene Manöver auswärtiger Verkehrsteilnehmer reagieren die Einheimischen aber mit Nachsicht. Schließlich mussten sich die älteren von ihnen selbst schon einmal – vorübergehend – umstellen. Die deutsche Besatzungsmacht ordnete im Zweiten Weltkrieg den Rechtsverkehr an, nachdem sie die Insel 1940 ohne Gegenwehr übernommen hatte. Aber mit dem Kriegsende 1945 war der Seitenwechsel schon wieder Geschichte.
Dennoch hinterließen die Deutschen Bleibendes. Tausende von Zwangsarbeitern mussten das Eiland damals in kurzer Zeit zur „uneinnehmbaren Festung“ ausbauen. Weil die alliierten Kriegsgegner die strategisch unbedeutende Insel bei ihrer Invasion 1944 einfach ignorierten, verfügt Jersey heute noch über jede Menge unzerstörte und unzerstörbare Bunker. Nicht alle sind so gut erhalten wie die „Hohlgangsanlage 8“, die heutigen „Jersey War Tunnels“. In den 1,5 Kilometer langen Gängen des nie benutzten unterirdischen Hospitals schildert eine eindrucksvolle Ausstellung das Insel-Leben während der Zeit der deutschen Besatzung.
Ganz unkriegerisch nutzt David Cowburn die zuletzt gebaute Bunkeranlage in der St. Catherine’s Bay. In deren gefluteten Gängen züchtet der ehemalige Hochseefischer 6000 Steinbutte für den privaten Verkauf, füttert sie täglich und lässe sie von jeder Flut mit Frischwasser versorgen.
So ist die düstere jüngere Geschichte auf die eine oder andere Art präsent. Doch die Zeugen der älteren Vergangenheit sind ungleich imposanter und prägender. Wer zum Beispiel den wadenbeißenden Aufstieg zum Mont Orgueil Castle in Gorey bewältigt hat, versteht gut, warum König Johann diese Festung im 13. Jahrhundert genau hier bauen ließ. An drei Seiten von Meer und Klippen geschützt sichert sie ihrerseits die ansonsten leicht zugängliche Bucht. Das auch an der französischen Küste wahrnehmbare trutzige Wahrzeichen der Insel sollte zugleich schon von weitem als Abschreckung dienen.
Zum Glück für Genießer gelang dies nicht immer. Vom französischen Einfluss profitieren deshalb die Küchen in den noblen Restaurants und urigen Pubs. Diese haben so spannende Namen wie „Old Smugglers Inn“ oder „Old Court-House Inn“. Letzteres ist ein ehemaliges Gerichtsgebäude, in dem einst die Freibeuter Ihrer Majestät, die „Privateers“, ihre geraubten Schätze untereinander aufteilten.
Mit derlei Geschäften hatten die Gründer von Samarés Manor noch nichts zu tun, als sie sich vor gut 900 Jahren auf einer Salzmarsch an der Südküste niederließen. Heute ist es das einzige öffentlich zugängliche Herrenhaus der Insel, und neben Mauerresten aus dem Jahr 1100 sind vor allem seine prächtigen Zier- und Nutzgärten einen Besuch ebenso wert wie seine Falknerei.
Aus dem 17. Jahrhundert stammt ein Großteil des bäuerlichen Häuserensembles Hamptonne im Inselinnern. Wer sein Fahrrad hier zur Mittagspause abstellt, muss schon mal die Hühner vom Tisch scheuchen, bevor der deftige Bohneneintopf („Bean Crock“) serviert wird. In der Scheune gluckst gärender Apfel-Cider, in den Ställen tummeln sich Kälber und Schweine.
Wildere Tiere beherbergt gar der Jersey Zoo. Berggorillas, der hochgiftige blaue Dart-Frosch, die Fruchtfledermaus und andere vom Aussterben bedrohte Exoten sind dort vorübergehend zuhause. Der „Durrell Wildlife Conservation Trust“ hat hier sein Hauptquartier zur Pflege seines weltweiten Artenschutzprogramms.
Unweit davon liegt La Hogue Bie. Ein Rätsel, wie es vor 6000 Jahren schon möglich war, ein neolithisches Ganggrab so zu bauen, dass an manchen Tagen ein Sonnenstrahl exakt in seine Kammer fällt. Die enge Röhre erfordert vom Besucher nicht nur geringe Leibesfülle, sondern auch ein gewisses Maß an Mut. Denn über ihm wölbt sich ein mächtiger Grabhügel, auf dessen Kuppe eine Kapelle thront.
Von deren Mauern aus schweift der Blick weit über eine friedlich-liebliche Landschaft. Leicht geschwungen breiten sich Felder aus, die von holsteinisch anmutenden Knicks durchzogen sind. Auf grünen Wiesen weiden die typischen braunen Jersey-Kühe, und vereinzelt erinnern Palmen daran, dass der Golfstrom die Kanalinseln umspült.
Der lässt heute Jet-Ski, Surfbrett oder Gummi-Banane auf seinen Wellen tanzen, wenn die Urlauber sich an den ausgedehnten Sandstränden von St. Quens und St. Aubin tummeln. Die Fischerboote in den Häfen hebt er bei Flut um bis zu 13 Meter an. Oder er trägt Segel- und Motoryachten in unzugängliche Buchten von smaragdgrünem Wasser unterhalb atemberaubend steiler Felshänge aus rosa Granit. Den Leuchtturm von Corbiere lassen seine Wellen bei Sturm in Gischt versinken. Bei Windstille bildet der Atlantik dort eine sanft wogende, gewaltige Kulisse für romantische Sonnenuntergänge. ® Uwe Wahlbrink 2006
Auskunft: Jersey Tourism, Liberation Square, St. Helier, Jersey JE1 1BB, Telefon +44 (0) 1534500777.